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Unrecht im Rechtsstaat

homo.net Info vom 21. März 2019
von Webmaster Jan

 

In der DDR waren homosexuelle Handlungen bis 1968 strafbar. Im Westen bis 1969. Der Paragraf 175 galt vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1994. Von den Nationalsozialisten noch verschärft wurde der Paragraf 175 nach dem Krieg unverändert in das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik übernommen. Fast 70.000 Opfer wurden in Deutschland nach 1945 wegen ihrer sexuellen Orientierung verurteilt.

Deutlich mehr Menschen mussten Ermittlungsverfahren über sich ergehen lassen. Sie wurden systematisch benachteiligt und kriminalisiert. Ab sofort können auch sie symbolische Entschädigungen beantragen. Bisher wurden nur die Fälle anerkannt wo es zu einer rechtskräftigen Verurteilung kam.

Wie realitätsfern diese Einschränkung war, zeigt der Fall Wolfgang Lauinger. Er war einer der Betroffenen der berüchtigten „Frankfurter Homosexuellenprozesse“ 1950/51. Sein Antrag auf Entschädigung wurde Ende 2017 abgelehnt, weil er damals ‚nur‘ in Untersuchungshaft saß und freigesprochen wurde. Welche weiteren - negativen - Auswirkungen dieser öffentlichkeitswirksame Prozess auf das Leben Lauingers hatte, war für die Entscheidung irrelevant. Einige Wochen nach dieser Entscheidung starb Lauinger, ohne jemals für sein Leid entschädigt worden zu sein.

Jetzt soll Entschädigung auch dann gezahlt werden, wenn es gegen die betreffende Person ein Ermittlungsverfahren gegeben hat oder sie in Untersuchungshaft saß.

Das Gesetz zur Rehabilitierung Homosexueller gilt seit 17. Juli 2017. Seitdem haben 133 der rund 5.000 noch lebenden Berechtigten Anträge auf Entschädigung gestellt. Bewilligt wurden bislang Leistungen in Höhe von 433.500 Euro. Durchschnittlich 3.260 Euro als Ersatz für mehrere Jahre Gefängnis und die Vernichtung der bürgerlichen Existenz.

Als der damalige Bundesjustizminister Heiko Maas 2017 das Gesetz vorstellte, wurden 30 Millionen Euro dafür zur Verfügung gestellt. Bleibt die Frage: Was wurde aus den 29.565.500 Euro die bisher nicht ausgezahlt wurden? Gerade mal 1.45% der Gelder wurde zweckgemäß verwendet. Das sind nicht einmal die Zinsen.

Justizministerin Katarina Barley stellt jetzt ihre neue Richtlinie als längst notwendigen Schritt vor: „Die Verfolgung Homosexueller war aus heutiger Sicht grobes Unrecht. Als Rechtsstaat übernehmen wir dafür heute Verantwortung“, sagte sie. Sie wünsche sich, dass sich viele Betroffene an das Bundesamt für Justiz wenden, um eine Entschädigung zu erhalten. „Die Hürden sind niedrig. Es genügt, die damalige Verfolgung darzustellen.“

Wer in Untersuchungshaft saß, kann nun eine Entschädigung von 1.500 Euro je angefangenem Jahr erhalten. Davon unabhängig gibt es 500 Euro Entschädigung für jedes eingeleitete Ermittlungsverfahren. 1.500 Euro Entschädigung sind auch für Betroffene vorgesehen, die unter außergewöhnlich negativen Beeinträchtigungen zu leiden hatten.

In der Meldung des Justizministeriums wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass die Geldleistung nicht als Schadensersatz zu verstehen sei. Es ginge vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Solidarität um eine symbolische Anerkennung erlittener Beeinträchtigungen.

Bis 2017 wurde die Wiederherstellung der Würde der schwulen Justizopfer blockiert durch Einwände, die auf formale Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verweisen.

Das Bundesverfassungsgericht hatte 1957 zwei Verfassungsbeschwerden gegen den Paragraphen 175 verworfen. In der Aufhebung der durch ein Gesetz gebilligten Urteile sahen die Juristen einen Verstoß gegen die Gewaltenteilung und eine Gefährdung der Rechtssicherheit. Karlsruhe verneinte damals die These, dass der Paragraph in der 1935 verschärften Fassung ein NS-Unrechtsgesetz sei.

Damals galt die Verfolgung Homosexueller für die Ideologie der biologischen Volksgemeinschaft als wichtig. Gleichwohl lagen die Verfassungsrichter nicht falsch, als sie feststellten, dass die Norm in der Version der Strafrechtsreform von 1935 keinen Bruch markiere. Es geht hier um staatliches Unrecht, das nicht mit den Nationalsozialisten in die Welt kam. Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 bestrafte die „Sodomiterei“ mit Zuchthaus plus Verbannung zwecks „gänzlicher Vernichtung des Andenkens“.

Da der Paragraph 175 inzwischen gestrichen war, konnte das Verfassungsgericht sich nicht mehr selbst korrigieren. Also musste der Gesetzgeber tätig werden. Rechtssicherheit kann nur bedeuten, dass Gerichte und Behörden sich nach Artikel 1 des Grundgesetzes richten. Die von den Richtern 1957 postulierte Grundlage war die fraglose soziale Ächtung der Homosexualität. Diese Grundlage ist inzwischen entfallen. Treue zum leeren Buchstaben eines Urteils von 1957 damit widersinnig.

Was erklärt den bis 2017 hartnäckigen Widerstand gegen ein Aufhebungsgesetz? Der absolut gesetzte Gegensatz von Unrechtsstaat und Rechtsstaat. Der Rechtsstaat, fürchtete man, setzt sich selbst ins Unrecht, wenn er formal korrekt gefällte Urteile nachträglich korrigiert. Das Gegenteil ist richtig. Die Geschichte des Paragraphen 175 zwingt zu der Einsicht, dass es Unrecht auch im Rechtsstaat gibt.

Diese Woche also ein Fortschrittchen in die richtige Richtung. Die Rehabilitierung der 70.000 Nachkriegsopfer ist ein Dienst an ihrem Andenken, der Widerruf ihrer moralischen Verbannung. Es bleibt nun abzuwarten, ob die Opfer für ihr Leid tatsächlich zeitnah und unbürokratisch entschädigt werden. Die neue Richtlinie verspricht das. Viel Zeit bleibt nicht mehr.

Informationen für die Opfer:
https://gay-szene.net/biss.html
https://gay-szene.net/justizamt.html

Nachdenklich grübelnd,
Jan
Webmaster
vom homo.net Team

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